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„Wer Hochrüstung brüllt, geht Putin auf den Leim“


7. März 2022

Vor einer Woche verkündete Kanzler Scholz in Berlin eine Zeitenwende und damit verbunden einen Richtungswechsel in Sicherheits– und Außenpolitik. Unter dem Eindruck der Kriegsbilder aus der Ukraine bleibt die Kritik bislang sehr zurückhaltend. Doch das könnte sich bald ändern. Der Magdeburger Bischof Friedrich Kramer spricht von einem fatalen Irrtum der Politik. Er ist der Friedensbeauftragte der evangelischen Kirchen in Deutschland. Ein Interview samt Einschätzung von Uli Wittstock.

Ein Bischof steht auf einer Kanzel und schaut zur Seite

Bildrechte: MDR SACHSEN-ANHALT/Anne Hornemann

„Gott mit uns“, so stand es auf dem Koppelschloss der deutschen Soldaten, sowohl im ersten wie auch im zweiten Weltkrieg. Allerdings war Gott dann doch nicht voran in das Verderben marschiert, wie sich nach dem Ende der Kriege zeigte. Dass mit dem Segen der Kirchen erneut deutsche Soldaten ins Feld ziehen, gilt derzeit als ausgeschlossen. Aber vor zwei Wochen galt es ja auch noch für völlig ausgeschlossen, einhundert Milliarden Euro in die Aufrüstung der Bundeswehr zu investieren.

Der Magdeburger Bischof Friedrich Kramer ist der Friedensbeauftragte der evangelischen Kirchen in Deutschland, spricht also für rund 20 Millionen evangelische Christen. Vom Kurswechsel des Bundeskanzlers war er genauso überrascht wie die meisten anderen im Land. Er hält das ganze allerdings für Populismus.

„Das funktioniert jetzt natürlich. Die Leute fühlen sich bedroht, haben Angst oder sind geschockt. Jetzt ist das Thema also mehrheitsfähig. Das sieht man ja auch, wenn man sich die Umfragen anschaut. Das ist aber, glaube ich, eine vorübergehende Situation.“

Seit dem Mauerfall gibt es weniger Interesse für Friedenspolitik

„Wir müssen massiv dagegen vorgehen“ sagt Bischof Kramer und meint damit die Aufrüstungspläne der Bundesregierung. Dabei kann sich Kramer auf eine lange Tradition der kirchlichen Friedensarbeit berufen, sowohl in Ost, wie in West. Sachsen-Anhalt spielt dabei eine besondere Rolle, denn 1983 war es der Wittenberger Pfarrer Friedrich Schorlemmer, der mit der Aktion „Schwerter zu Pflugscharen“ für Aufmerksamkeit diesseits und jenseits der Mauer sorgte. Doch seit dem Fall ebenjener Mauer und dem Niedergang der Sowjetunion hat das Thema Friedenspolitik deutlich an Interesse verloren, trotz der zahlreichen Kriege seitdem.

Doch nun bestimmen plötzlich Bilder und Berichte aus einem europäischen Kriegsgebiet den Alltag und unsere übernächsten Nachbarn kommen nun als Flüchtlinge zu uns. Dass dies tatsächlich eine Zeitenwende ist, sieht auch Friedrich Kramer so, nur fordert er, andere Konsequenzen zu ziehen.

„Wer jetzt Hochrüstung brüllt, wer auf Waffen setzt, der geht Putin auf den Leim. Das muss man auch mal deutlich sagen. Nehmen wir doch mal dieses Zwei-Prozent-Ziel. Ist das wirklich realistisch? Soll man das machen? Ich bin strikt dagegen. Wir sind nicht im Krieg, und es doch völlig sinnlos, weil uns dann nämlich die Mittel für die zentralen Zukunftsaufgaben fehlen.“

Frieden schaffen mit weniger Waffen

Friedrich Kramer ist mit der ostdeutschen Friedensbewegung aufgewachsen, hat in der DDR den Dienst an der Waffe verweigert, als sogenannter Bausoldat. Von einem naiven Pazifismus hält er jedoch wenig. So fordert er nicht, die Bundeswehr abzuschaffen, oder auf jegliche Rüstung zu verzichten.

Er verlangt stattdessen eine kritische Bilanz der Verteidigungspolitik, insbesondere mit Blick auf die letzten zwei Jahrzehnte, denn da sei aus seiner Sicht vieles schief gelaufen: „War es richtig, das Konzept der Landesverteidigung zu vernachlässigen und stattdessen in Auslandseinsätze investieren? Nein, das war falsch. Wir sollten zur Normalität des Grundgesetzes zurückkehren. Und Landesverteidigung kann man nur im europäischen Verbund organisieren. Und da könnte man dann die Mittel massiv herunterfahren, was auch sinnvoll ist. Denn wir brauchen die Milliarden für die Bildung, für den Umbau im sozial-ökologischen Bereich. Wir brauchen das Geld nicht für tote Waffen, die niemandem nützen und die Sicherheit eher gefährden als stärken.“

Das ist wohl einer der Kollateralschäden des Putinschen Angriffs auf die Ukraine, dass nämlich Themen wie Klimawandel oder soziale Ungerechtigkeit nun plötzlich aus dem Blick geraten sind.

Eine Debatte über die NATO hält Kramer derzeit eher für unzeitgemäß. Dass Länder wie Polen, Litauen oder Lettland unter das schützende Dach der NATO schlüpften, ist mit Blick auf die Rauchfahnen über Kiew und Charkiv verständlich. Doch es handele sich bei dem Einmarsch russischer Soldaten in die Ukraine nicht um den ersten Krieg in Europa nach dem Ende der Sowjetunion. Das werde in gegenwärtigen Situation gerne übersehen, so Kramer. „Wir haben auch einen völkerrechtswidrigen Krieg vom Zaun gebrochen, im Kosovo mit der Nato und auch mit einer Begründung, die sich im Nachhinein als falsch herausgestellt hat. Das Irre ist jetzt ja, dass sich alte Muster wiederbeleben. Plötzlich kommen antikommunistische, antisowjetische und antirussische Muster wieder hoch.

Wenn ich höre, dass da irgendein Gastwirt in Baden-Württemberg keine Russen mehr bedienen will. Das ist doch völlig absurd und wir müssen diesem steinzeitlichen Denken entgegentreten. Mit Sicherheit geht das nur gemeinsam, wie wir auch nur gemeinsam in Europa eine Zukunft haben.“

Atomwaffen als Dauerproblem

In achtziger Jahren war es vor allem die Angst vor einem Atomkrieg, der die Menschen auf die Straße brachte. Mit dem Ende der Ost-West-Konfrontation ist dieses Thema aus dem Blick geraten, auch wenn die atomare Abrüstung nur sehr schleppend vorankam. Zwar erhielt die Internationale Kampagne zur Abschaffung der Atomwaffen (Ican) im Jahr 2017 den Friedensnobelpreis, doch die Bundesrepublik trat bis heute nicht dem UN-Atomwaffenverbotsantrag bei. Die Deutschen sind zumindest indirekt eine Atomwaffenmacht, weil sie über die Nuklearstrategie der Nato mitbestimmen.

Außerdem verfügt die Bundeswehr über Tornado-Kampflugzeuge, die im Ernstfall mit US-Atomsprengköpfen beladen werden können. In der deutschen Politik „nukleare Teilhabe“. Dieser verteidigungspolitische Grundsatz müsse hinterfragt werden, fordert Friedrich Kramer.

„Es ist ganz wichtig, dass wir uns nach diesem Krieg für die massive Abrüstung der Atomwaffen einsetzen. Und ich halte es für zentral, dass Deutschland nicht weiter auf die Teilhabe an der Abschreckung setzt, sondern ganz bewusst diesem Atomwaffenverbotsvertrag beitritt. Diese Waffen sind völkerrechtswidrig, egal, wer sie hat.“

Bischof Kramer glaubt in dieser Frage eine Mehrheit der evangelischen Christen hinter sich, das hätten Reaktionen der letzten Tage gezeigt.

MDR (Uli Wittstock) – 6. März 2022