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„Wie viele Tote sind wir bereit einzukalkulieren?“


13. Februar 2021

Pfarrerin Dr. Nikola Schmutzler fordert eine offene Diskussion über die Realität mit Corona

Lockdown und kein wirkliches Ende: „Wir müssen lernen, mit dem Virus zu leben“, sagt die promovierte Theologin aus Auerbach. Die 43-Jährige wünscht sich weniger Fokus auf die corona-körperliche Unversehrtheit, dafür mehr auf die gravierenden Folgen, die die Coronabeschränkungen haben. Susanne Kiwitter hat mit Dr. Nikola Schmutzler über Sterben ohne Abschied, willkürliche Trauergastzahlen und immer gleiche Stellschrauben gesprochen.

Freie Presse: Frau Dr. Schmutzler, im Dezember und Januar ist die Zahl der Todesfälle in der Region markant gestiegen. Das belegen Zahlen aus den Standesämtern – schlägt sich das auch bei Ihrer Arbeit nieder?
Nikola Schmutzler: Ich habe in diesem Jahr bisher sieben Beerdigungen begleitet. Normalerweise sind es im Schnitt zwei pro Monat.

Parallel mehren sich die Hinweise, dass Menschen in dieser Pandemiezeit häufiger einsam Sterben. Stichpunkt Besuchsverbote in Krankenhäusern und Pflegeheimen; mehr Sozialbestattungen und rückläufige Zahlen bei professionellen Sterbebegleitungen. Wie nehmen Sie das Sterben als Pfarrerin im Moment wahr?
Dazu habe ich erst kürzlich ein konkretes Beispiel erlebt: Ein Ehepaar, das über 60 Jahre zusammen verbracht hat. Der Mann an Corona erkrankt und sterbend im Heim, die Frau wollte dabei sein und hatte extra ein Bett dazu gebucht. Doch sie durfte nicht. Aus Sicht der Leitung eine nachvollziehbare Entscheidung. Aus Betroffenensicht nicht. Zumal in keiner Coronaschutzverordnung Sachsen bisher Sterbebegleitung verboten wurde.

Was im Umkehrschluss heißt, Sterbebegleitung darf eigentlich nicht verwehrt werden?
Sterbebegleitung ist etwas Essentielles. Sie muss möglich sein, dafür werden dringend konkrete Parameter benötigt, an denen sich Verantwortliche in Heimen und Kliniken orientieren können. Dabei waren wir vor Corona auf einem guten Weg, das Thema Sterben wieder ins Bewusstsein der Gesellschaft zu holen.

Was macht das mit Hinterbliebenen, die sich von ihren Liebsten nicht verabschieden konnten?
Das ist schwer auszuhalten und setzt sich bei Bestattung und Trauerfeier fort. Geschlossener Sarg bei Verstorbenen mit Covid-19-Infektion und maximal zehn Teilnehmer geben den Rahmen vor. Dabei nimmt letztere Zahl keine Rücksicht auf variierende Raumgrößen und unterschiedliche soziale Strukturen in der Stadt und auf den Dörfern. Sie ist willkürlich. Und das empfinde ich als sehr bedrückend.

Als der Ministerpräsident im Sommer nach Auerbach gekommen war, um mit Vertretern verschiedener Sparten eine Bilanz nach der ersten Coronawelle zu ziehen, warnten Sie ausdrücklich vor den gesellschaftlichen Folgen der Einschränkungen. Gleichzeitig forderten Sie differenziertes Vorgehen im weiteren Pandemieverlauf, bei dem Kretschmer und Co. damals davon ausgingen, dass er nicht so schlimm werde, wie es dann im Spätherbst kam. Welche Bilanz ziehen Sie heute?
Wir drehen nach wie vor an den gleichen Stellschrauben: Kita, Schule, Einzelhandel, Pflegeheime – all jene Bereiche, die keine Lobby haben, und schauen nur auf das Eine: die corona-körperliche Unversehrtheit.

Im Sommer hatten Sie schon festgestellt, man könne an allem sterben, nur nicht an Corona …
Ja, dem gegenüber stehen Menschen, die aus Angst vor einer Ansteckung mit Covid-19 nicht zum Arzt gehen und dabei an anderer Stelle gesundheitliche Risiken eingehen. Alte, die vereinsamen; Depressive, die Suizid begehen; Kinder und Jugendliche, die psychisch und körperlich Übergriffen ausgesetzt sind. Das sind Fakten, die bekannt sind. Wir wissen das.

Lässt sich dieses Dilemma lösen?
Die Frage ist: Wie viele Coronatote sind wir als Gesellschaft bereit einzukalkulieren? Die Diskussion dazu fängt im Familienkreis an: Ob Großeltern ihre Enkel sehen dürfen oder nicht, darf nicht nur von der jüngeren Generation vorsorglich entschieden werden. Senioren könnten durchaus zu dem Schluss kommen, dass Einsamkeit und Isolation gegenüber dem Infektionsrisiko die für sie größeren Übel sind.

… was umgekehrt bedeutet: Im Ernstfall müssen sich die Kinder nach einer möglichen Ansteckung mit der Schuldfrage auseinandersetzen …
Deshalb ist es wichtig, darüber zu sprechen. Auch die Abschottung birgt Risiken. Mir begegnet im Moment ganz viel Depression.

Ein Beispiel?
Bei Geburtstagsbesuchen erlebe ich enttäuschte Jubilare, die sich angesichts eines hohen runden Geburtstages fragen: ,Jetzt habe ich dieses Alter erreicht, und nun fällt es unter den Tisch?’
Wir brauchen deshalb dringend eine differenzierte Abwägung und ein Konzept für ein Leben mit dem Virus.

Das Interview erschien in der Freien Presse Auerbach am 12. Februar 2021.

Freie Presse vom 12. Februar